Preußisches Bleisatz-Magazin
Stimmungsbilder

Ich — Es — Über-Ich: Kleine Plauderei 3.399 views 1

Auf meinen Schultern sitzen permanent links ein kleines Teufelchen namens Es und rechts ein Engelchen, das auf den Namen Über-Ich hört. Und Ich hocke genau dazwischen in der Mitte. Heftig, sag‘ ich Ihnen.

Wir Drei kommunizieren interaktiv. So, wie das Web 2.0, naja, jedenfalls so ungefähr. Mein Über-Ich habe ich in den letzten… sagen wir: 40 Jahren gründlich ausgemistet und renoviert. Meine ich zumindest. Aber vielleicht ist das ja auch nur eine Illusion. Man nennt das dann «an sich arbeiten» und denkt, man könne auf diese Weise, mit oder ohne Hilfe eines Therapeuten, gewisse Mängel in seiner Persönlichkeitsstruktur ausgleichen. Vielleicht aber kann man als Optimum gerade nur erreichen, sich selbst insoweit zu ertragen, auf daß man nicht zum absoluten Arschloch mutiert bzw. sich zum psychotischen, durch Lebensangst gebeutelten Wrack entwickelt. Ansonsten bleiben uns wohl nur zwei Auswege: Die Extrovertierten explodieren, die Introvertierten implodieren.

Und schon haben wir wieder einen kleinen Baustein zum Verständnis meiner Persönlichkeit sezieren können: Ich gehöre zur Gruppe der Implodierenden, richte grundsätzliche Aggression gegen mich selbst, fresse in mich hinein, bis meine Seele unter dem Druck implodiert.

In früher Jugend habe ich radikal vom Sockel meiner inneren Werte gestoßen, was ich nur finden konnte.Das war zu Beginn der 70er Jahre nichts besonderes, gehörte zum Programm unserer Generation.

Bis ich etwa 14 Jahre alt war, antwortete ich auf die Frage «Was willst Du später einmal werden?» wie im Reflex «Förster oder Brückenbauer.». Nun war ich ein Großstadtjunge. Was ich von Tieren wußte, hatte ich Büchern entnommen, von denen ich verschlang, was mir in Greifweite kam. Ich habe die persönlichen Geschichten von Adlern, Wölfen, Bären und natürlich Pferden inhaliert, denen von ihren Autoren menschliche Eigenschaften mit auf den Erzählweg gegeben wurde. Noch heute versuche ich, mit Hunden zu diskutieren, die ich über ihre Besitzer kennenlerne. J.D. Salinger läßt seinen Protagonisten Seymour der erkrankten kleinen Schwester Texte von Lao-Tse vorlesen. Auf die Frage, ob dies Sinn mache, weil die Kleine doch den Text noch gar nicht verstehen könne, antwortete er «Sie hat Ohren». Genau so bin ich Zeit meines Lebens auf Tiere zugegangen. Nicht unbedingt ein erfolgversprechender Weg, oder? Also: Wieso dann gerade Förster?

Ähnlich verhält es sich mit dem sicherlich faszinierenden Beruf der Brückenbauer. Gut, ich bin handwerklich nun wirklich nicht ganz so blöd, wie es meine Exfrau in den letzten Jahren gern hingestellt hat, um ihre eigenen, spät entwickelten und von mir in vollem Umfang anerkannten handwerklichen Fähigkeiten für sich selbst und nach außen zu erhöhen. Ich kann einen Keller zum Büro umbauen — joh, inklusiv Stromverkabelung und Abhängen der Decke. Aber was ein wirklich handwerklich geschickter Mensch ist, habe ich zuletzt vor rund zwei Jahren gelernt: Ich hatte eine Maschine aus dem Jahr 1926 bekommen. Ein kompliziertes Ding mit dutzenden von Gestängen, Scharnieren, Kraftübertragungen und Sollbruchstellen. Rund 30 cm Bedienungsanleitung lag auch dabei. Mein Problem war nicht, diese Anleitung zu verstehen. Mein Problem war, den Decke zu den Innereien der Maschine zu öffnen. Man mußte an zwei Stellen gleichzeitig drücken, um dann an einer dritten Stelle den Deckel anzuheben. Das war in der Anleitung gut beschrieben, erschien den Autoren unter Garantie als banal. Ganz sicher ist es das auch. Joh… Nun steh‘ mal vor einer 90 Jahre alten Maschine und bekomm‘ den Deckel nicht auf. Gibt es peinlicheres? Ich habe dann meinen Tischlermeister-Nachbarn um Hilfe gebeten, der seit seiner Jugend aus purem Interesse Maschinen auseinanderschraubt und wieder zusammensetzt. Nur, um zu verstehen wie diese funktionieren. Er ging ein paar Minuten um meine Maschine herum, dabei die Rißzeichnung im Handbuch studierend. Dann drückte er auf zwei weit auseinanderliegende Stellen, die Druckpunkte rasteten ein und er hob den Deckel hoch. Voilá.  Nein, ich bin kein geborener Brückenbauer. Ich bin irgendetwas anders.

«Förster oder Brückenbauer» habe ich bis zu meinem 14. Lebensjahr geantwortet, weil ich diese Aussage von meinem Vater übernommen hatte. Der war sich offensichtlich seit meiner Geburt als Stammhalter sicher, daß hier meine Zukunft läge. Joh… Und mit gut 14 Jahren fragte ich (mich) dann zum erstenmal «Wieso eigentlich Förster oder Brückenbauer?» So begann meine Rebellion gegen die Ordnung an und für sich. Zum Symbol für diese mir verhasste Weltordnung erkor ich meinen Vater. Der Arme wußte ganz sicher nicht, was er mir angetan hatte, um nun so von mir behandelt zu werden. Ich wußte das auch nicht. Im Nachhinein meine ich manchmal, daß genau das zu den Aufgaben eines Vaters gehört: Sparringspartner sein für die Selbstfindungskämpfe des Sohnes. Bitte komm‘ mir nun bloß keiner mit diesem Ödipus-Schwachsinn. Es reicht doch, wenn ich hier Freud’sche Theorien verunstalte.

So stürmte ich also die Sockel der Werte und Tugenden, die man mir mit auf den Lebensweg gegeben hatte und nach zwei, drei Jahren standen sie nun da, die leeren Sockel, die zuvor die übernommenen Werte aus Erziehung, meiner Umwelt und der Kultur, in die ich hineingeboren worden war, unwidersprochen besetzt gehalten hatten. Denn ich machte Tabula Rasa. Was auf einem Sockel stand, wurde weggeknackt, gnadenlos und ohne Ausnahme.

Nun wissen wir alle, die wir hier schreiben (also ich) und lesen (also Sie), was passiert, wenn man fleißig wegnimmt, was, einmal wertfrei betrachtet, essentiell ist: Es entsteht ein Vakuum. Wenn mir heute mein Volvic ausgeht, sorge ich frühzeitig für Nachschub. Sonst bleibt als Alternative nur «Kranenberger», also Leitungswasser. Im Alter von 16 Jahren waren die Heiligen Hallen meines Über-Ich durch die Große Säuberung bis auf die Sockel leer. Ich glaubte gar nichts mehr, was man mir erzählte. Schon aus Prinzip nicht. Und wurde zum Suchenden in den tiefen Tälern, in denen die Unangepaßten, die Störrischen und die lebten, die, wie ich, jegliche traditionellen Autoritäten, also Eltern, Lehrer, ablehnten. Bis heute kann ich nicht detailiert ausführen, was ich nun eigentlich suchte, kann nur eine diffuse Floskel anbieten: Den Sinn des Lebens. Und da mein Über-Ich durch die Sockel-Stürmerei darniederlag, fand mein Es keinen Widerstand und übernahm die alleinige Kontrolle. Mein Ich in der Mitte war praktisch triebgesteuert. Der Gegenpol in Form des Über-Ich war nicht stark genug, um seine Kontrollfunktion zu erfüllen. Um Ihnen eine Floskel für Ihr zweifellos vorhandenes Schubladendenken zu geben, das uns allen so hilfreich beim Einschätzen unbekannter Situationen dient,  zu geben: Ich schloß mich der Hippie-Szene an. Ich schreibe Schublade, weil es sie nicht gab, DIE Hippie-Szene. Es gab nur viele Suchende, unter denen man bisweilen solche fand, die in dieselbe Richtung zu suchen schienen, wie man selbst.

Um nicht allzusehr vom Thema abzuweichen, nur kurz: Im Nachhinein wird diese Bewegung stark romantisiert und es wird ein Bewußtsein für das wirklich Wahre und Wichtige im Leben unterstellt, daß es schlicht gar nicht gab. Was uns vereinte, war das eher instinktive Ablehnen des Bestehenden und die Suche nach etwas völlig neuem. Wir versuchten, eine Utopie zu leben. Was an sich nichts schlechtes sein muß, auch, wenn solche Utopien in unserer heutigen rationalen Sichtweise verwerflich sein mag. Jeder 20jährige muß sich in der heutigen Zeit ganz konkret nicht nur Gedanken um seine wirtschaftliche Existenz machen, sondern er sollte auch beginnen, für seine Altersversorgung vorzubeugen. Weiter weg kann man von unserem damaligen Denkansatz überhaupt nicht weg sein.

Was es aber nicht gab, waren «Love & Peace». Sexuell gehörten wir alle einer völlig verklemmten Generation an. Freie Liebe mag es in der Kommune I gegeben haben — zumindest erscheint mir sicher, daß jeder Mann dort gern einmal an Uschi Obermeier herangekommen wäre. Ansonsten galten das Nacktschwimmen und die bh-losen Brüste der Mädels mehr als Symbolhandlungen für selbstverständliche Gleichberechtigung statt einer Reduzierung der Frau auf «Arsch & Titten». Ein Umstand, der uns Jungs dazu zwang, diesem Postulat begeistert zuzustimmen — schweren Herzens. Selbst Ghandi hat zwei Kinder gezeugt. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Ghandi einen Orgasmus bekommen hat, indem er sich gedanklich in den Geist seiner Frau versenkte. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.

Die Utopie währte solange, bis sie zu Beginn der 1970er Jahre ihre Unschuld verlor. Harte Drogen nahmen Einzug in die Szene und schon sehr bald war es aus mit lustig.

Das Füllen der leeren Sockel meines Über-Ich dauerte wohl noch an die zehn Jahre und verlief keinesfalls kontinuierlich. Teils drehte und wand ich mich, manchmal qualvoll, vor Erkenntnissen, die mir heute selbstverständlich sind. Teils fand ich Hilfe bei Reiferen, die mir zuhörten und mir halfen, meine wirren, unausgegorenen Gedanken in klarere Bahnen zu lenken. Dankbar bin ich dabei denen, die mir halfen, mich selbst zu finden, ohne den Anspruch zu erheben, die Wahrheiten gepachtet zu haben.

Erst mit 26 Jahren waren die Sockel meines Über-Ich wieder halbwegs besetzt. Manche mit Werten, denen ich bis heute folge. Manche mit einer Art Statthaltern, die ich mangels besserem eigenen Wissen dort aufgestellt hatte, dem Beispiel und Rat Obengenannter folgend. Das Engelchen namens Über-Ich konnte nun also Es, dem Teufelchen, wieder erfolgreich Paroli bieten. Wobei ich kritisch anmerken darf: Vielfach mußte ich auf eine erlernte Technik zurückgreifen, die es mir erlaubte, meine Es-gesteuerten Triebe zu kanalisieren, aber nicht, sie in Ausgleich zu meinen Kontrollwünschen zu bringen. Die Amerikaner nennen so etwas pragmatisch und achselzuckend «So what? It works!». Und haben recht. Ich fand so eine Balance in meinem Ich, das mir half, zurechtzukommen in meinem Leben.

Mit 27 Jahren war ich dann soweit. Konnte ganz bewußt entscheiden, was mir am wichtigsten ist in meinem Leben. Spät, oder? Joh. In dem Alter hatten meine Eltern schon zwei Kinder gezeugt und ich befand mich in der aktiven Planung.

Was war mir das wichtigste im Leben? Darüber habe ich ziemlich genau ein Jahr lang nachgedacht. Habe alles nicht wirklich Wichtige weggestrichen und bin bis auf den Grund meines Es abgetaucht: Was für ein Leben will ich eigentlich? Unter all‘ den vielen oberflächlichen Wünschen und Sehnsüchten nach Befriedigungen aller Art fand ich einen Fels in meines Es‘ Grund (Gott, was für eine schöne Formulierung): Ich wollte eine Familie gründen. Eine Frau finden, die zuläßt, daß ich sie liebe und die mich liebt. Eine Tochter, einen Sohn. Der Rest würde sich dann von selbst ergeben. So sah ich das, so hat es sich auch ergeben. Wir alle drei: Mein Über-Ich, Ich und mein Es waren zufrieden. Die anderen drei lange Zeit auch: Meine Frau, meine Tochter, mein Sohn.

Die beiden, das Engelchen und das Teufelchen, hocken natürlich immer noch auf meinen Schultern. Aber es reicht ein kurzer, abschätziger und spöttischer Blick von meinem Ich, wenn Es meint, mich einmal wieder auf die Achterbahn schicken zu müssen. Ich brauche das einfach nicht mehr. Oder, anders ausgedrückt: Ich finde die Achterbahnen in meinem Leben, die mich befriedigen und die dennoch den Sockelgestalten in den Hallen meines Über-Ich nicht widerstreben. Menschen wie ich kommen natürlich von ihrer ursprünglichen Prägung nie weg. Sie können sie kontrollieren und kanalisieren. Das ist auch schon alles. «Normale Menschen» (was immer das sein mag) pendeln zwischen -100 und +100. Unsereins denkt, fühlt, handelt extremer, schlägt also stärker aus. Ich habe nicht nur gelernt, damit umzugehen, sondern auch, genau diese extremen Energien, die mein Handeln in meiner Jugend zu häufig negativ und letztlich selbstzerstörend beeinflußten, konstruktiv einzusetzen.

Deshalb habe ich auch ganz bewußt Korsettstangen als Sicherheiten in mein Leben eingebaut. Schwere Poller, an denen Hochsee-Schiffe am Kai festgemacht werde, Überlaufbecken, um Druck abzulassen, Wellenbrecher, die den Druck aufteilen. Das waren und sind für mich meine Kinder, das war meine Frau, das ist mein Beruf und mein Geschäft, dessen Tätigkeitsfeld ich liebe. Alles das würde ich verlieren, wenn ich Es nicht unter Kontrolle hätte.

Und so bin ich auch mit den ganz normalen Krisen meines bürgerlichen Lebens umgegangen. Mit den persönlichen Krisen und Katastrophen, die — bitte machen Sie sich nichts vor, so einzigartig bin ich nicht — jedem Menschen bevorstehen, sofern er sie nicht schon einmal durchgemacht hat. Im Idealfall gilt für mich «Wenn es gut läuft, bleib‘ bescheiden — es kommen auch wieder schlechte Zeiten. Wenn es schlecht läuft, hab‘ Grund zur Hoffnung — es wird auch wieder besser gehen.» Immer funktioniert das natürlich nicht; aber zumindest versuche ich es damit.

Ich habe immer schon ein sehr reiches Leben geführt. Reich an Erfahrungen, ungewöhnlichen Erlebnissen, weite Reisen in mich selbst. Und deshalb kann ich mich nicht beklagen. Manchmal sitzen wir Drei — mein Es, mein Ich und mein Über-Ich, abends erschöpft zusammen und lächeln einander an. Wir kennen uns mittlerweile so gut, daß viele Kämpfe nur noch rituellen Charakter haben. Wir wissen von vornherein, wie ein Kampf ausgeht, aber wir können ihn uns schon aus Prinzip nicht ersparen. Also spielen wir den Kampf nur noch mental durch. Und jeder von uns Dreien kann Gesicht wahren. Tatsächlich: Wir mögen einander mittlerweile. Auch was, mh?

  1. Kommentar by Thomas Kersting — 31. Mai 2010 @ 00:40

    Eine schöne und beachtenswerte Beschreibung dieser Jahrgänge! Treffend und ehrlich, nicht beschönigend und nicht reuemütig. Es gibt natürlich auch Menschen, die in der gleichen Zeit eine andere Entwicklung „durchgemacht“ haben und es wäre interessant, auch deren Sicht kennenzulernen.

    Wir 58iger hatten jedenfalls – bestärkt durch den Zeigefinger unserer Eltern – erstaunt und erschrocken auf den Scherbenhaufen der wenig älteren geblickt und wollten es unbedingt besser machen. Zudem waren wir die letzten „echten“ Jungs: Wir brauchten die Klassen noch nicht mit Mädchen zu teilen und uns von denen herumkommandieren zu lassen! Wir haben die 59iger bemitleidet (natürlich nicht beneidet). Mit 14 waren wir in der Lehre und mit 18 konnten wir den Führerschein von einem Monatsgehalt als Geselle bezahlen und mit 20 Jahren hatten wir schon eine ansehnliche Summe in die Rentenkasse einbezahlt und auf dem Sparbuch… und waren gesuchte Finanzpartner zur Gründung einer Familie!

    Die folgenden 60iger Jahrgänge etc. waren verweichlicht. Sie saßen nur noch zu Hause und nächtelang vor so einem Ding – Commodore 64 – genannt und das sollte ein Computer sein? Damit konnte sogar Musik gemacht werden und das rumste ganz ordentlich… Die haben keine Dampfloks mehr wahrgenommen und keine Kohlen mehr geschippt und nach 100 km Fahrt auf der Tenderbrücke jeden Knochen einzeln gespürt. Stattdessen gingen sie in eine Disco und machten merkwürdige Bewegungen. Von denen (nicht den Bewegungen) konnte auf einmal jeder studieren, es sich überlegen, und nochmal etwas anderes studieren.

    Um nicht wieder in einer meiner längeren, heute fast unverständlichen oder blödsinnigen Kommentare zur Ablenkung oder Langeweile des Geistes zu verfallen, ende ich hier. Den Umgang mit 90 Jahre alten Maschinen habe ich auch schon ausreichend kommentiert.

    Trotzdem PS.: Ich überlege zur Zeit den Entwurf und die Herstellung eines Exlibris‘ für den Laptop. Vor vornherein stört mich schon einmal die Tatsache, dass es nur an einer einzigen Stelle eingelegt werden kann…

    Thomas Kersting

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