Preußisches Bleisatz-Magazin
Stimmungsbilder

Ich mag keine Kinder 2.704 views 0

Ich weiß schon… Sie erwarten jetzt eine Relativierung meiner Aussage in der Überschrift, richtig? Weit gefehlt. Ich setze noch einen drauf: Kinder gehen mir auf die Nerven.

Seit drei Jahren führe ich meinen Betrieb jetzt schon hier unten im Tal  der Anger im Nordosten Ratingens. (Schon geht’s los: Fragen Sie mal einen 14jährigen, wo Nordosten ist. Er wird zurückfragen, ob Sie kein Navi haben.). Das kleine Gewerbegebiet hier hat ein paar Eigenheiten, u.a. gibt es hier nur die Hausnummer 74 — für ungefähr 40 Klein- und Mittelstandsbetriebe. Ich sag‘ Ihnen… da kommt täglich Freude auf bei der ewigen Fragerei durch die Paketdienst-Fahrer und die vielen Kundenbesucher. Am Wochenende ist es am schlimmsten: Dann kommen die  Mamis mit den Kindern, um im nahegelegenen Ausfluglokal die Sandkästen zu verschmutzen.

Vom Fenster der Setzerei aus sehe ich sie regelmäßig hier einbiegen, um einen Parkplatz zu suchen. An sich dürfen sie das nicht. Hier gibt’s nur Parkplätze für Besucher der Betriebe. Und wer will mir erzählen, daß die in der Familienkutsche mit Kindersitz und Hund vorfahren? Ah… wah…

Am ärgsten zuwider sind mir die Pubertierenden. Man erkennt sie leicht an der Abfall-Spur, die sie hinter sich lassen,wenn sie über den zum Parkplatz mutierten Betriebshof schlurfen. Kaugummis, Schokoriegel-Verpackungen, benutzte Papiertaschentücher fangen sich abends, vom Wind getrieben, im Zaun, der den Bahndamm vor dem betreten schützt. (Ja, richtig gelesen. Denn stünde der Zaun nicht, sie würden den Schottersteine stehlen und mir damit die Scheiben einwerfen. Und die Eltern würden es wohl noch als antiautoritären Akt der Selbstfindung hinstellen.).

Einmal hab‘ ich was gesagt. „Dir ist da etwas hingefallen“. Oh, ich kann sehr diplomatisch sein. „Was? Nee, das ist Abfall…“ Allein für das „Was“ statt „Wie bitte…“ könnte ich… Ich habe das Papiertaschentuch dann schweigend aufgehoben und zum Müllcontainer 15 m weiter gebracht. Den pädagogischen Vortrag hab‘ ich mir verkniffen.

Am zweiten Advents-Sonntag kamen gleich zwei Familien mit ihren Vans (man sagt heute Van zu einem Kleinbus. Nun gut.) auf den Parkplatz gefahren. Die beiden Ehefrauen haben’s eilig „Wir gehen schon ‚mal vor. Ihr Männer bringt die Sachen aus dem Kofferraum mit und kommt dann nach.“ Nichts ungewöhnliches also. Mami von heute hat alles voll im Griff.

Als die Ehefrauen, gefolgt von ihren schwer bepackten Gesponsen schon fast verschwunden sind, schlurfen auch die drei Backfische los, kichernd, tuschelnd. Vielleicht 14jährig,  wie kann man das heutzutage sagen? Mit gewollt zynischem Gesichtsausdruck, Kaugummi kauend, die Füße kaum vom Boden hebend — liegt’s an den „Chucks“, den Stoff-Turnschuhen, ohne die heute kaum jemand dieser Generation anzutreffen ist? Sie unterhalten sich in ungemein lautem, seltsamem Stakkato. Erst jetzt, im Näherkommen, erkenne ich die weißen Strippen der Kopfhörer, die eine jede in den Ohren stecken hat.

Ich hole gerade die Post aus dem Briefkasten, als sie mich ansprechen: „Was ist das eigentlich hier? Wir haben Sie schon öfters oben gesehen mit den alten Schränken.“ Ich beschließe, das ärmliche Deutsch zu überhören und höflich zu sein: „Das ist eine Setzerei aus der Buchdruck-Zeit. Früher wurde alles, was gedruckt wird, aus Bleibuchstaben gesetzt und nicht, wie heute, am Computer geschrieben.“ Nun ja, stark vereinfacht ist meine Kurz-Definition nicht einmal so verkehrt.

Sie staunen mich an. Orientieren sich untereinander mit kurzen schnellen Blicken. „Kann man sich das ‚mal anschauen? Ach, bitte, nur kurz. Wir hatten das gerade in der Schule, Gutenberg und so…“

In der heutigen Zeit, in der ich mich als 54jähriger Mann nicht einmal am hellichten Tage allein auf eine Bank im Park sitzen kann, ohne als potentieller Belästiger oder ärgerem verdächtig zu sein, bin ich nicht so töricht, sofort zuzustimmen. Andererseits imponiert es mir, daß sie trotz meines bemüht mürrischen Gesichtsaudruckes zu fragen wagen. „Mh, ja. Kurz. Aber dann fragt bitte erst Eure Eltern, damit die wissen, wo Ihr seid.“ (Ich weiß genau, daß ich für diesen Satz gönnerhafte Anerkennung vieler emanzipierten Leserinnen erziele. Beim nächsten mal verlange ich Zeilengeld.

Ich vergaß, daß sie heute alle Handys haben, meine Hoffnung, daß sie auf dem Weg zu ihren Eltern den Besuch vergessen, wird schnell obsolet. Ich höre sie wispern. „Hi, ich bin’s. Du, wir sind hier noch bei dem dicken alten Mann, der immer da oben zwischen den alten Schränken sitzt. Er hat uns eingeladen, uns das anzuschauen.“ Ich bin sprachlos, unruhig, öffne den Mund, will Einwände vorbringen, denn ich habe nichts dergleichen… zu spät. Das Telefonat ist schon beendet. „Kein Prolem. Meine Mutter weiß Bescheid und hat nichts dagegen.“ Also gut, so soll es denn sein.

Die Besichtigung ist kurz. Nach 10 Minuten — länger ist die Aufmerksamkeits-Dauer solcher Backfische eh nicht — habe ich Ihnen den Bleisatz gezeigt, eine Satzform angedruckt und ihnen aus dem Eimer mit Bleisalat ein paar Initiale herausgefischt. Sie fragen „Leben Sie hier?“ — „Kind, was geht Dich an, wo und wie ich lebe. Schau Dir die Setzerei an, so etwas siehst Du wahrscheinlich in Deinem Leben nie wieder. Aber wie soll hier jemand leben können? Kannst Du nicht denken?“ Diese Sätze sind nie auf ewig unausgeprochen geblieben. Stattdessen lüge ich: „Ja, ich bin der letzte Schritsetzer in Deutschland. Mich haben sie hier vergessen in diesem verwunschenen Tal.“ Soviel zum Thema: Es gibt keine dummen Fragen…

Sie ziehen ab. Der Nervfaktor hielt sich in Grenzen, ich vergaß die ganze Angelegenheit sofort. Nun gut, der „dicke alte Mann“ stand da noch eine Weile im Raum, aber letztendlich: was soll’s.

Heute ist der vorletzte Adventssonntag. Ich sitze in der Setzerei und schreibe an meinen Kurzgeschichten herum, genieße die Ruhe. Ein paar Besucher draussen vor dem Fenster ignoriere ich geflissentlich. Es klingelt. Es klingelt? Draussen vor der Tür (Wolfgang Borchert, sehr zu empfehlen) steht die ganze Rasselbande: Drei Backfische, Mamis, Papis, Hund. Oh, toll. Ja. Noch ’ne Führung. Ein tiefes Seufzen entflieht meinem Brustkorb. Ich gehe runter,öffnen.

„Guten Tag“, ergreift gleich eine der Mamis die Initiative. Sie ist die resolute, zupackende, diese Sorte Trümmerfrau des 21. Jahrhunderts. Fehlte nur das Kopftuch.

„Wir wollen Sie gar nicht lange aufhalten. Theresa hat uns vom Besuch der Mädels letzte Woche bei Ihnen erzählt und daß Sie völlig alleine hier leben und niemanden sonst haben.“ Was nur mag das blöde Gör‘ erzählt haben? „Und weil jetzt doch Adventsszeit ist wollen die Mädels Ihnen eine Freude machen. Trauen sich aber nicht.“ Sagt’s und schon drückt sich die ganze Bagage an mir vorbei in die Eingangshalle. Sie stapeln kleine Päckchen und Tütchen, ein jedes sorgfältig in unterschiedlichstes Weihnachtspapier gewickelt, ein jedes mit einem winzigen Anhänger versehen, auf den dort stehenden Doppelschrank. „Die Tupperdosen hätte ich gern bei Gelegenheit zurück“, wispert mir die Generalmajorin noch zu. Lacht, schreit „Schön’n Adveeeeheeent… Uuuund weg. Weg. Alles raus.“ Und dann sind sie weg. Theresa winkt noch.Kurz und aus dem Handgelenk, leicht verlegen und gar nicht mehr zynisch.

Sie hinterlassen mich sprachlos. Nein, nicht vor Dankbarkeit. Pffft… Ich meine: Ehm… ja, doch natürlich bin ich nun auch dankbar. Die Mädchen haben doch tatsächlich Selbstgebackenes abgepackt für mich. Ein selbstgestrickter oder gehäkelter Schal — was verstehe ich davon? — in charchiergenden Grüntönen. Mh. Ja. Lieb. Sprachlos bin ich wegen der Unausweichlichkeit der Verstrickung in Mißverständnisse, falsche Interpretation und Assoziation, der uns alle fest in Fängen hielt. Keine Möglichkeit, nachträglich klarzustellen, daß ich kein einsamer, alter, dicker Mann bin. Naja, zumindest bin ich nicht einsam. Wobei: muß ich’s klären?

Wenn sie nächste Woche wieder hier parken, werden sie wohl winken. Ich weiß schon. Ich werde wohl zurückwinken. „Dicker, alter Mann…“ pffftt… Blöde Göre. Wie ist es? Suchen Sie ’nen Parkplatz?

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